SPD: Strategie, Profil und Dynamik für neue Perspektiven.

Ein Debattenbeitrag von Sebastian Hartmann

Die SPD scheint weder in einer guten Lage, noch in guter Verfassung zu sein. Reines Wehklagen und lautes Bedauern der Situation wird aber nichts verbessern. Dass es wieder aufwärts gehen kann, wissen wir. Dass es eines gemeinsamen Kraftaktes und Dauerlaufs bedarf, ahnen wir. Dafür brauchen die SPD vor allem dreierlei. „S.P.D.“! Das bedeutet: Strategie, Profil und Dynamik.

 

S – Strategie

Eine gute Strategie ist ständiger Anpassung unterworfen und passt sich dauerhaft der sich verändernden Realität und Situationen an. Die Langfristigkeit einer Strategie darf nicht mit Inflexibilität verwechselt werden. Denn eine Strategie liegt nicht wie eine rostige Eisenbahnschiene unflexibel wie unverändert jahrzehntelang in der Landschaft rum.

Auf die SPD übertragen heißt das: Es ist höchste Zeit, die veränderten Realitäten anzuerkennen. Ja, die SPD hat sich unter schweren Mühen Anfang 2018 für den Eintritt in eine Große Koalition entschieden – mit den Verhandlungspartnern Horst Seehofer als CSU-Chef und Angela Merkel als CDU-Vorsitzende und Kanzlerin. Doch Frau Merkel und Herr Seehofer sind am Ende ihres politischen Wirkens und Wütens und bald nur noch Geschichtsbucheinträge.

Nur ein Wort zur Einordnung: Hinter der Bundesrepublik liegen Chaostage im Sommer. Der Versuch des amtierenden Bundesinnenministers Horst Seehofer, Kanzlerin Angela Merkel über die erneute Debatte um die Flüchtlingspolitik zu kippen, ist zwar gescheitert. Dem Ansehen der Regierung hat es aber immens geschadet. Die ursprüngliche Begründung einer erneuten großen Koalition aus staatpolitischen Gründen mit dem Hinweis auf eine „stabile Regierung“ wurde öffentlich der Lächerlichkeit preisgeben. Dabei ist das jämmerliche Bild der Regierung zu allererst in der Verantwortung der Regierungschefin Angela Merkel. Es ist Ausdruck ihrer Führungsschwäche.

Auch die Wahl eines neuen CDU-Vorsitzenden ist nicht zu unterschätzen. Unabhängig davon, ob Annegret Kramp-Karrenbauer, Jens Spahn oder Friedrich Merz den Vorsitz übernehmen. Mit Friedrich Merz und Ralph Brinkhaus ist sie wieder da. Die alte, neoliberale CDU. Die Partei, die der Wirtschaft einseitig den Vorrang gibt und Arbeitnehmerinteressen nur als markthinderlich betrachtet. Die Forderung nach der 42-Stunden Arbeitswoche stammt aus Merz‘ Feder ebenso wie die Begrenzung gewerkschaftlicher Betätigung oder das Mantra „Mehr Kapitalismus wagen“.

Mit Jens Spahn als neuen CDU Vorsitzenden würde die skurrile Situation entstehen, dass Angela Merkel sich von ihrem CDU-Parteivorsitzenden und eigenem Gesundheitsminister morgens beim Frühstück vor der Kabinettssitzung die neuesten Dienstanweisungen abholen müsste. Seine Vorstöße zur inhaltlichen Absetzung von ihrer Politik lassen wenig Gutes erahnen. Das ginge doch keine 48 Stunden gut. Damit steht die große Koalition so oder so vor einer Wendung im Dezember und mutmaßlich vor weiteren neuen Realitäten um die Jahreswende.

Die SPD ist gut beraten, nicht abzuwarten, sondern eigenständig zu agieren. Sie darf der CDU den Flügelkampf und die Aufkündigung des ohnehin kaum vorhandenen Koalitionskonsenses nicht als „Erneuerung“ durchgehen lassen.

Zugegeben, der kleinste, aber nicht ausreichende Nenner wäre es, den aus Sicht der SPD gut verhandelten Koalitionsvertrag nun gegen die Union zu wenden. Er ist gut nutzbar als rotes Stoppschild und Rückversicherung für ein weltoffenes, liberales Deutschland gegen den neuen „egal-wer“-Vorsitzenden der Union. Der Vertrag ist geschlossen und Jens Spahn könnte sich wegen einer veränderten Flüchtlingspolitik auf den Kopf stellen genauso wie Friedrich Merz mutmaßlich eine neue Wirtschaftsordnung durchsetzen wollte – aber sie bekämen keine Mehrheit.

Eine „konservative Wende“ ist mit der SPD nicht zu machen, das Vereinbarte gilt. Die SPD sagt deutlich nein – mit allen Konsequenzen. Diese Frage muss öffentlich an die Union vor ihrem Parteitag gerichtet werden. Soweit zum Regierungshandeln und guten Bruchlinien.

 

P – zum schärferen Profil der SPD.

Die Lösung der Krise der SPD ist nicht im kurzfristigen Beschluss von veränderten Fahrplänen für das Regierungshandeln zu finden. Gutes Regieren und das Abarbeiten von Verträgen werden allgemein erwartet, dafür wird niemand gefeiert.

Scheinbar kommt etwas anderes, viel zentraleres in Gang. Denn selbst jahrzehntelange Mitglieder und bedeutende Verantwortungsträger der SPD-Parteiführung veröffentlichen nun reihenweise Texte und teils radikale Positionen zur ebenso jahrzehntelang überfälligen Neupositionierung der SPD in bedeutenden, gesellschaftlichen Fragen. Hier darf bei aller Selbstkritik und allem Aktionismus auch die Wirkung auf die Öffentlichkeit und mögliche Unterstützergruppen nicht unterschätzt werden. Sie müssen aktiv eingebunden werden, denn ansonsten gibt es nur eine weitere, rein parteiinterne Debatte.

Die SPD muss sich in maximal vier oder fünf Leitthemen eigene Leitmotive und neue Linien einer linken Volkspartei erarbeiten. Es ist an der Zeit, über Koalitions- und Regierungslogik deutlich hinauszuwachsen. Damit definiert die SPD nicht nur Möglichkeiten zum neuen Vertrauensaufbau und eine stärkere Wählerbasis. Wenn es gut angelegt wird, wird es die Basis oder Plattform neuer Mehrheitskonstellationen in den Parlamenten. Denn der SPD fehlt auch eine glaubhafte Machtperspektive jenseits einer großen Koalition – zumindest auf der Bundesebene.

Die Sozialdemokratie muss deutlich machen, für welches Deutschland, für welches Gesellschaftsbild sie steht und welche neuen (!) Wahlmöglichkeiten sie damit für interessierte Wähler anbietet. Denn die SPD muss Original sein und nicht eine „ähnlich wie“-Partei. Denn die anderen Parteien gibt es schon.

Mögliche Felder im Überblick – aber nicht alle:

Mit Blick auf die europäische und internationale Rolle Deutschlands. Es ist die Idee einer fortschrittlichen und solidarischen Gestaltungmacht.

Das zentrale Motiv: Wie wird die stattfindende Globalisierung zu mehr Gerechtigkeit für alle genutzt und nicht nur zum schnellen Reichtum für Wenige. Das bedeutet auch den Bruch mit alten, rein marktradikalen Linien der Europäischen Union. Und die stehen im Mai des kommenden Jahres zur Wahl. Hier muss die SPD spannend voran.

Die Sicherung sozialer Rechte für Arbeitnehmer sind Beispiele ebenso wie die Einhegung der Marktmacht internationaler Konzerne und ihrer Besteuerung nach dem Standortprinzip, einer Digitalsteuer oder der EU-Finanzmarktsteuer.

Mehr noch: Eine neue deutsch-europäische Friedensagenda schließt nicht nur Rüstungsverträge mit Saudi-Arabien aus. Die Idee der Internationalisierung der verbliebenen deutschen Rüstungsindustrie und ihre parlamentarische Kontrolle wäre eine wahre sozialdemokratische Initiative gegen die weltweite Aufrüstungsspirale eines Putins und eines Trumps.

Die SPD hatte immer Konjunktur, wenn es hieß, den Wandel solidarisch zu gestalten. Es bedeutet, Strukturbrüche zu verhindern, der Polarisierung unserer Gesellschaft und Spaltung in Gruppen die Idee eines solidarischen Miteinanders und der progressiven Gestaltung des Wandels entgegenzustellen. Das Leitmotiv: Wie wird aus dem technologischen Wandel sozialer Fortschritt? Diese vorhandene, noch zu füllende Leerstelle drückt sich in mangelnder Zustimmung zur Politik der SPD aus. Die SPD braucht eine Konzeption für die Gestaltung des digitalen Wandels.

Die verstärkten Investitionen in den sozialen Zusammenhalt sind eine sehr gute Initiative. Sie könnten auch mit vorhandenen Bundesmitteln, von Haushaltsüberschüssen bis hin zu vorhandenen Reserven á la „Flüchtlingsreserve und Co“ unterlegt, bereits jetzt angestoßen werden. In Verbindung mit einem handlungsfähigen Staat, der auf ausreichende Einnahmen bauen kann, ist es eine Chance für neue Mehrheiten. Aber es bedarf auch jetzt schon klarer Signale.

Mit Blick auf ein liberales, tolerantes Gesellschaftsbild und einen Staatsverständnis des handlungsfähigen Staates.

Es ist absolut richtig, dass die SPD mit alten Fehlannahmen in der Sozialpolitik jetzt aufräumen und einen neuen (!) Gedanken eines starken, solidarischen Sozialstaats entwickeln will. Dieser darf nicht entlang von Sanktionen und Gängelung ausgerichtet sein und damit der Beförderung von Abstiegsangst Vorschub leisten. Die Idee des starken, solidarischen Sozialstaats muss entlang des Gedankens der Ermöglichung differenzierter Lebensentwürfe und Emanzipation jedes Menschen ausgerichtet werden. Also dem Weg zum selbstbestimmten Leben jeder und jedes Einzelnen.

Die Verteilung von Arbeit, die gerechte Verteilung des enormen Produktivitätszuwachses durch die Digitalisierung und auch die konsequente Überführung prekärer Beschäftigung in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse, die Verhinderung eines uferlosen Leih- und Zeitarbeitsmarkts oder von endlosen Ketten- oder Werkverträgen sind Leitgedanken. Dazu kommt: Die sozialen Sicherungssysteme müssen zu echten Systemen der sozialen Sicherheit werden.

Wir brauchen eine Einbeziehung größter Vermögen in die Besteuerung und höhere Abgaben bei höchsten Einkommen, um in eine solidarische Finanzierung des Gemeinwesens zu kommen. Dies kann der Kern eines neuen Entwurfs eines sozialdemokratischen Wirtschaftsmodells sein. Wo ist die sozialdemokratische Antwort auf immer größere Ungleichheit zwischen arm und unfassbar reich?

Diese inhaltlichen Positionierungen müssen zweierlei erreichen: Einerseits sind sie die Plattform, damit die SPD sich überhaupt wieder einer Machtperspektive erarbeiten kann – jenseits einer großen Koalition. Denn zur Wahrheit gehört: Weder ist mit der CDU in einer großen Koalition die Umsetzung des weltweiten Sozialismus zu erwarten noch hat die SPD in der Vergangenheit ihr strategisches Dilemma seit der verlorenen Bundestagswahl 2009 mit mageren 23 % jemals überwunden. Damals – und zwar jenseits von Kandidatenfragen und eher schwierigen Kampagnen – gab es das Problem, dass Wählerinnen und Wähler sich beim besten Willen häufig nicht vorstellen konnten, mit wem die SPD denn zukünftig auf welcher inhaltlichen Plattform gemeinsam regieren wollte.

Zusammengefasst: Die SPD muss inhaltlich spannender werden, mutiger sein und gleichzeitig Nerven bewahren. Sie muss wieder Orientierungspunkt gesellschaftlicher Debatten werden und nicht ängstliche Kopie scheinbar erfolgreicherer Umfragegewinner. Am Ende entscheiden Wahlen und nicht Umfragebarometer.

 

D – zur Dynamik

Die SPD muss sich vor allen Dingen jetzt unabhängig von Strategien und Zeitplänen des Konrad-Adenauer-Haus und der CDU machen. Sie muss eine eigene Dynamik entwickeln, wenn sie ihr Profil nun schärfen will. Nur so wird es eine öffentliche und keine interne Debatte.

Es ist bei einer guten Strategie immer sinnvoller, zu agieren als zu reagieren oder gar nur zu beobachten. Und wenn die anderen mental schon aus der Koalition raus sind, dann sollten wir erst recht identifizieren, was wir inhaltlich anders und besser machen wollen.

Wir werden es brauchen – einmal sehr sicher, in einem anderen Fall vielleicht schneller als gedacht. Denn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen frohen Mutes in die Europawahlen ziehen. Und wir wollen keine anderen Wahlauseinandersetzungen fürchten – allen Umfragen zum Trotz. Doch dies ist auch eine Haltungsfrage. Wenn wir uns nichts mehr zutrauen und nur noch auf Umfragewerte, die im Keller sind, schielen – dann wird das nichts. Wenn wir uns nicht mehr motivieren, wie wollen wir dann eine Wählerin oder einen Wähler motivieren?

Wenn wir uns eines merken können aus dem so genannten „Schulz-Hype“, dann ist es der Wunsch nach Kandidatinnen und Kandidaten, die positive Projektionsfläche sind. Die SPD wird nun Prozesse anstoßen, schnell ihr Profil inhaltlich zu schärfen. Zur Wahrheit gehört: Das allein wird im Fall des Falles nicht reichen. Vielleicht wird sie auch schnell Fragen zu Spitzenkandidaturen klären müssen. Da wird es um ganz andere Dynamiken gehen. Die „Sturzgeburten“ von Kanzlerkandidaten haben allesamt der SPD nicht genutzt und dem Wahlerfolg geschadet. Die Ideen vor Vorwahlen oder bei mehreren Kandidatinnen und Kandidaten von Urwahlen sollte immerzu fertig in der Schublade liegen. Denn, wenn es mit dem neuen Profil und neuer Motivation gelingt, dann werden die Kandidatinnen und Kandidaten Schlange stehen. In der SPD wird entschieden, wer Kanzlerin oder Kanzler wird.

Oder ein gänzlich verändertes Vorgehen zur Gewinnung neuer Positionen. Warum nicht der Entwurf eines Wahlprogramms in vier, fünf digitalen „Townhall-Meetings“ der SPD ebenso wie offene Regionalkonferenzen zu den Leitfeldern? Verbunden mit der Begrenzung eines lesbaren und auch für nicht Politik-Nerds verständlichen Ergebnistextes auf 15 – 18 Seiten. All das sind Chancen.

Also mehr Mut und weniger Angst. Es ist wieder alles offen – und das ist gut so. Für unser Land und die SPD.